Die Sterne singen hören

„Das letzte Stück ist bergig“, sagt Horst Schwickerath vorsorglich, „sehen Sie zu, dass Sie im Hellen ankommen, sonst finden Sie das Château nicht.“ Meinen Einwand, ich sei eine geübte Kartenleserin, belacht er leise. „Sie werden sehen“, sagt er.

Und wir sahen: Nach der Brücke in Deux Aygues – okzitanisch für „Zwei Wasser“ – wo Beaume und Drobie zusammenfließen, geht ein Weg steil bergauf, eine asphaltierte Piste, die sich in kilometerlangen Schleifen um den Berg windet. Immer wieder gibt es atemberaubende Ausblicke ins Tal und auf das glitzernde Flüsschen Drobie, auf die Berghänge ringsum mit Kastanienwäldern und Eichen. Die Hänge sind vor Jahrhunderten terrassiert worden, um ein paar Quadratmeter Platz zu schaffen für Olivenbäume, für ein bisschen Gemüse und – ganz früher – Getreide. An die Zeit, in der an den Hängen Weizen angebaut wurde, erinnert sich keiner mehr, aber aus dieser Zeit stammt der Name Château du Blat, okzitanisch für „blé“, Weizen. Man muss sich schon ein Herz fassen für diese Kurverei am Abgrund. Die Einheimischen, die weit verstreut leben, sind dran gewöhnt. Ein roter R4 kommt uns in rasender Fahrt entgegen, am Steuer sitzt eine energisch dreinschauende Kurzhaarige – die Krankenschwester, wie wir später erfahren. Entscheidende Wegweiser nach vier Kilometern sind zwei Müllcontainer – der erste linke Weg von der Brücke, und dann lehnt schon bald ein blaues Schild an einem Baum: Château du Blat. Horst Schwickerath hatte recht: Im Dunklen wären wir dran vorbei gefahren.

Der Hausherr hat zur Begrüßung Pizza gebacken, ein ganzes Blech mit gut zehn Zentimetern Belag, denn die meisten Gäste haben eine lange Fahrt hinter sich, und weit und breit gibt es keinen Laden, kein Restaurant, dafür das, was die meisten zuhause nicht haben: Natur und Stille.

Zwei runde Türme mir rankenden Rosen machen das Natursteinhaus zu einem Dornröschenschloss. Horst Schwickerath, der aus Wiesbaden stammt, hat es vor gut fünfundzwanzig Jahren als Ruine erworben und mit eigener Hand wieder aufgebaut, Stein für Stein. Er wollte „etwas machen“, einen Hof bewirtschaften mit seiner Familie, Ziegenkäse herstellen, Kühe und Schweine halten und weitgehend Selbstversorger sein. Mehrere Jahre betrieb er einen anerkannten Demeter-Hof. Lustige Sachen hat er aus der Zeit zu erzählen, zum Beispiel, wie er eine ausgebüxte Sau durch den halben Kastanienwald verfolgen musste oder wie die Ziegen regelmäßig in den Gemüsegarten einfielen und ihn kahl fraßen – lustig im Nachhinein, versteht sich. Die mühevolle Landwirtschaft trug sich nicht, die Familie Schwickerath teilte die Erfahrung vieler Aussteiger: Wenn es Ziegenmilch gibt, dann gibt es sie überall, und die Preise für Ziegenkäse sinken so tief, dass kein Gewinn abfällt. Horst Schwickerath wandte sich seiner anderen Leidenschaft zu, dem Aikido. Er gibt ein deutsch- und ein französischsprachiges Aikidojournal heraus und hat auf seinem Grundstück ein „Dojo“, einen mit Matten gepolsterten Trainingsraum, den die Gäste gern benutzen dürfen (er ist auch hervorragend für Yoga geeignet), und er vermietet seine fünf Ferienwohnungen, von denen drei ein Turmzimmer haben – Bilder aus meinem alten Grimmschen Märchenbuch stellen sich ein, Rapunzel lässt ihren Zopf hinab, Dornröschen schläft ihren hundertjährigen Schlaf, und draußen wippen die Rosenranken vorm Fenster. Aber die Wohnungen sind fanzösisch-praktisch eingerichtet, was bedeutet: Funktion kommt vor nostalgischer Landhausromantik, und man stellt fest, dass sich das bekannte schwedische Möbelhaus erfolgreich auch in Frankreich etabliert hat, sogar in einem französischen Landhaus, das bereits im 9. Jahrhundert – erstmals als „Château du Blat“ beurkundet wurde. Das Wasser kommt aus einer hauseigenen Quelle, es schmeckt köstlich-frisch und ist in dieser trockenen Gegend eine Kostbarkeit, die nicht verschwendet werden darf, im Hochsommer muss Horst Schwickerath seine Gäste mitunter bitten, nicht so ausgiebig zu duschen.

Man verliert sein Tempo und pendelt sich ein: Den Tag mit dem selbstgebackenen Brot oder mit Croissants beginnen, die man bei Horst Schwickerath bestellen kann, in die Landschaft gucken, das Gelände durchstreifen, das grenzenlos und riesig ist, zum Dörfchen Beaumont wandern, das wenige Kilometer oberhalb des Château auf dem Berg liegt, weiter wandern, kilometerweit an den Hängen entlang durch die Kastanienwälder, einen Ausflug zum Col de Meyrand machen, Blaubeeren pflücken und die weite Aussicht genießen, vielleicht am Mittwoch zum Markt in den nächstgrößeren Ort Joyeuse fahren, Lebensmittel kaufen, die vielen schönen südfranzösischen Stoffe bewundern und befühlen, das mittelalterliche Städtchen besichtigen – und dann gern wieder zurückfahren in die Stille oben, wo jeder für sich sein kann. Die Gäste dort kommen sich nicht in die Quere, Anschluss suchen schon eher die Katzen. Man könnte sich unter den Walnussbaum zwischen den Türmen setzen und die Katzen streicheln, man könnte aber auch schon einmal in den Vorratsraum gehen und sich einen Rotwein für den Abend holen, dort liegt eine Liste, in die jeder einträgt, was er sich genommen hat: Wein, Cola, Saft oder den hausgemachten Essig – eine scharfe Angelegenheit.

Der gesamte Kastanienwald bis hinunter zum Fluss Drobie gehört zum Château. Ein Eselspfad, an vielen Stellen von wilden Rosen und Gestrüpp überwuchert, führt den Berg hinunter zum Fluss, schon nach wenigen Schritten ist man eingetaucht in diese grüne Hölle, und sie endet ebenso abrupt nach einem Fußmarsch von ungefähr zwanzig Minuten unten an der kleinen Straße, die sich parallel zum Fluss hinzieht. Geröll begrenzt den Lauf der Drobie, deren Wasser in Jahrhunderten langgezogene Badebecken in die Felsen geschliffen hat, so dass man schwimmen kann. Weit und breit ist wieder nichts – keine Erfrischungsbude, kein Haus, nur Himmel, Berge und Wasser.

Zu den touristisch ausgeschlachteten Attraktionen muss man schon zwei Stunden fahren. Die Gorges de l’Ardèche sind berühmt für Wildwasser-Paddeltouren. Und dort, an der Pont d’Arc, einem vom Wasser unterhöhlten, beeindruckend hohen Steinbogen, trifft sich das Gewimmel der Touristen. Zeltplatz reiht sich an Zeltplatz, eine Kanu-Vermietung an die nächste. Die Bergstrecke entlang der Schlucht zwischen Vallon-Pont d’Arc und St. Martin ist außerdem ein beliebtes Ziel für Motorradfahrer, die jede Kurve als sportliche Herausforderung nehmen.

Da bleiben wir doch lieber zu Hause und baden im Fluss und seiner Stille, die selbst meinen achtzehnjährigen Sohn – sonst jeder Party zugetan – zu einer ebenso verblüfften wie anerkennenden Äußerung nötigt: Mensch, hier ist ja richtig Natur!

Am Abend schließlich wird es so dunkel wie es kein Städter für möglich hält. Dafür knipst der Himmel seine Lampen an: Der Sternenhimmel breitet sich aus und leuchtet und leuchtet, und alles ist so still.

Ein Eintrag im Gästebuch sagt es sehr poetisch: Hier kann man die Sterne singen hören.


Elisabeth Richter, 2007

Anfahrt: Mit dem Auto in Montélimar - Nord – von der Autobahn abfahren, 60 km R.N. 102 bis Aubenas, dort (28 Km) die D 104 bis Joyeuse, im Ort zweigt die D 203 Richtung Valgorge(/Sablière) ab, der Straße folgen bis Deux Aygues, hinter der Brücke rechts den Berg hoch in Richtung Beaumont, 7 Km – 13(km von Joyeuse)

Landkarte Michelin Nr. 80, 1:20.000

Reisezeit: Bereits im Februar- auch im Dezember - kann es tagsüber 25° warm werden, die Abende sind aber kühl. Schönste Reisezeit im März/April, freie Aussicht, bevor die Kastanien Laub tragen, und im Herbst, wenn es nicht mehr so heiß ist – und man die Kastanien rösten kann.

Informationen unter www.chateau-du-blat.fr

Ferienwohnungen von zwei bis acht Personen ab 267 Euro/Woche. Es gibt verschiedene Rabatte.

Reiseführer: Weinhold/Schmitt: Ardèche und Cevennen. Wege durch eine alte Kulturlandschaft Südfrankreichs. Geocenter 2004. 21 €

Zur Einstimmung auf Südfrankreich allgemein: Birgit Vanderbeke: Gebrauchsanweisung für Südfrankreich. Piper 2002. 12,90 €.



Visitez-nous sur Facebook! Besuchen Sie uns auf Facebook!